Der lange Schatten

Der lange Schatten Jaumann

Inhalt

September 2011: In einer Regennacht wird in Freiburg (Breisgau) das Grab eines gewissen Eugen Fischers verwüstet. Zeitgleich ist Journalist Claus Tiedtke mit einer rund 70-köpfigen namibischen Delegation in historischer Mission unterwegs. Die hochrangigen Vertreter der Nama und Herero sind nach Berlin gekommen, um zwanzig während der Kolonialzeit geraubte Schädel feierlich in die Heimat zurückzubringen.

Etwa zehntausend Kilometer weiter südlich wird in Windhoek die Ex-Polizistin Clemencia Garises vom deutschen Botschafter Engels beauftragt, dessen Frau Mara zu schützen. Wenig später wird die Botschaftergattin gemeinsam mit dem 5-jährigen Herero-Jungen Samuel entführt. Statt eines Lösegeldes haben die Entführer eine ungewöhnliche Forderung: Botschafter Engels soll während Gedenkfeier für die zurückkommenden Schädel eine brisante Rede halten. Im Namen der Deutschen Regierung soll er ein eindeutiges Schuldgeständnis für den Völkermord an den Herero ablegen sowie Reparationszahlungen zusagen. Als sich herausstellt, dass das verwüstete Grab Mara Engels’ Urgroßvater gehörte und der Grabräuber Kaiphos Riruako, mit Fischers Schädel im Gepäck, während einer Routinekontrolle einen Polizisten erschießt, steht Clemencia vor jeder Menge ungeklärter Fragen. In welchem Zusammenhang stehen die Delikte zueinander? Und mit welcher Absicht wurden sie begangen? Handelt es sich um einen inoffiziellen Feldzug der Herero gegen die Deutschen? Versucht die SWAPO-Regierung die Genozid-Delegation zu sabotieren? Und welche Rolle spielt dabei Mara Engels?

Clemencia Garises bleiben bis zur Gedenkfeier nur knapp siebzig Stunden, um Antworten sowie Mara und Samuel zu finden. Spätestens dann muss Botschafter Engels im Namen der Deutschen Regierung ein Entschädigungsversprechen abgeben – oder seine Frau stirbt.

Kommentar

Mit seinem dritten Namibia-Roman rund um die Protagonistin Clemencia Garises, leistet Jaumann einen bemerkenswerten Beitrag zur deutsch-namibischen Gegenwartsgeschichte. Vor dem historischen Hintergrund der Schädelrückgabe, die Ende September 2011 in der Berliner Charité stattfand, entwickelt der Autor in „Der lange Schatten“ eine spannende Kriminalgeschichte. Geschickt mischt er dabei Fakt und Fiktion, wodurch das Erzählte zugleich zur längst überfälligen Geschichtsstunde avanciert. Dass der Durchschnittsdeutsche bezüglich dieses dunklen Kapitels deutscher Geschichte Nachholbedarf haben dürfte, lässt schon die Tatsache vermuten, dass die koloniale Vergangenheit in Schulbüchern bis heute kaum eine Rolle spielt. Jaumann nimmt sich dieses Missstandes an. Er schreibt gegen das kollektive Vergessen an und klärt seine Leser über einen Völkermord auf, der von der Deutschen Bundesregierung bis heute nicht als solcher bezeichnet wird: dem zwischen 1904 und 1908 von der kaiserlichen Schutztruppe begangenen Genozid an den Nama und Herero. Zentral für die Entwicklung des Plots ist die unterschiedliche Erinnerungspolitik der betroffenen Staaten. Auf der einen Seite steht Namibia, das im Rahmen des Herero-Tages jährlich den Krieg und den damit verbundenen Völkermord erinnert, bis heute auf ein Schuldeingeständnis der Deutschen Regierung wartet und für das die tausende Raubschädel, die gegenwärtig in deutschen Forschungsinstituten lagern, Salz auf offenen Wunden ist. Auf der anderen Seite steht Deutschland, für das dieses historische Kapitel von zweitrangiger Bedeutung und nur insofern relevant ist als es kontinuierlich einen unangenehmen diplomatischen Balance-Akt erfordert, bei dem es vor allem darum geht, keine Grundlage für Reparationsleistungen zu schaffen.

Die unterschiedliche Bedeutung der historischen Ereignisse spürt auch Journalist Claus Tiedtke, der gemeinsam mit der 70-köpfigen namibischen Delegation nach Deutschland gereist ist, um über die Schädelrückgabe zu berichten. Er stellt fest, dass in Deutschland erheblich mehr Zeit vergangen ist als in Namibia und „hundert Jahre nicht gleich hundert Jahre“ sind. In Deutschland interessiert sich keiner mehr für „ein paar alte Schädel“, die in irgendwelchen Universitätskellern herumliegen, denn für die deutsche Bevölkerung liegen zwischen damals und heute „zwei Weltkriege […], eine kurze Republik, ein Tausendjähriges Reich, ein geteiltes Land und ein wiedervereinigtes“. Über Namibia dräut dagegen der länger werdende Schatten der Vergangenheit und hält die Erinnerung so frisch, als seien die Schädel „erst gestern aus ihren Gräbern geraubt worden“.

Aus den unterschiedlichen Geschichtserinnerungen und den damit verbundenen politischen Implikationen erhält der Roman seine Dynamik und die agierenden Figuren die Motivation für ihr Handeln. So fühlt sich Kaiphas Riruako, der das Grab des 1967 verstorbenen Anthropologen Eugen Fischer verwüstet und dessen Schädel raubt, als Krieger „im Feldzug der Herero gegen die Deutschen“. Letztlich ist der junge Mann aber nur ein unbedeutender Bauer, der für einen Schachzug des namibischen Innenministers Kawanyama geopfert wird. Dieser hatte geplant mit dem Schädelraub die Genozid-Delegation zu sabotieren und auf diese Weise zu verhindern, dass die Herero und Nama „ihr eigenes Süppchen kochen“.

Der Leiter des Direktorats Kindeswohlfahrt, Julius Tjitjiku, hält wiederum eine Entschuldigung der Deutschen Bundesregierung für lange überfällig und missbraucht seine Machtposition bei der Bewilligung von Adoptionen, um seine eigenen politischen Ziele zu verfolgen. Er veranlasst Fischers Urenkelin und Botschaftergattin Mara Engels, die den verwaisten Herero-Jungen Samuel adoptieren möchte, ihre eigene Entführung vorzutäuschen, um von deren Mann ein offizielles Schuldeingeständnis und Reparationszahlungen zu erpressen.

Jaumann macht mit seinem Roman einerseits deutlich, dass man Entschuldigungen nicht erzwingen kann, so angebracht sie auch wären. Andererseits zeigt er auf, dass sich die Schuld der Deutschen nicht ganz so einfach mit Geld abtragen lässt, wie die Vertreter der Herero und Nama sich das wünschen. Denn schließlich gibt es „keine Herero-Nation, es gibt nur eine namibische Nation“, weshalb anzunehmen ist, dass die SWAPO-Regierung, die offiziell den „Anliegen der Hereros wohlwollend gegenüber steht“, inoffiziell Entschädigungsleistungen an eine ethnische Gruppe ablehnt.

Nicht zuletzt thematisiert Jaumann die immer noch bestehende Distanz zwischen der weißen und schwarzen Bevölkerung Namibias. Mit der Figur des Claus Tiedtke zeigt der Autor das Dilemma der deutschstämmigen Namibier auf, die wie „zwischen zwei Welten“ schweben, die ihnen „die Verwurzelung verweigerten“. Ein offizielles Schuldeingeständnis würde besonders ihren Ursprungsmythos und das darauf basierende Selbstverständnis in Frage stellen. Für sie steht fest: „Ihre Vorfahren durften keine unmenschlichen Verbrecher gewesen sein“.

Weitere Bücher von Bernhard Jaumann aus der „Clemencia Garises“-Trilogie

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